Vom erwachenden Lied in den Dingen
Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort.
Joseph von Eichendorff

Eines der Zauberwörter, die das Lied in den «Dingen» des Bildhauers René Küng zum klingen bringen, heisst erkennen.
Bereits der Entstehungsprozess eines Werks beginnt meist damit, dass der Künstler in Steinen, Hölzern, Metallstücken oder Papierschnipseln Formen erkennt. Mit grösster handwerklicher Präzision und jahrzehntelanger Erfahrung arbeitet René Küng mit sparsamen Eingriffen die erkannten Formen heraus. Das Erkennen teilt sich dem Betrachter mit, auch er kann die erspürte Form nun sehen.
Die Werkgenese kann aber auch anders laufen. Durch Stimmungen, Situationen, Orte und Klänge können René Küng allmählich oder fast visionsartig plötzlich Ideen zufallen, die sich dann wiederum in Formen konkretisieren. Der Gedanke wird erkannt und dann auch seine mögliche Umsetzung.
So hat zum Beispiel der Gesang eines blinden ägyptischen Fellachen in einer romanischen Kirche in Südfrankreich René Küng zutiefst beeindruckt und in ihm das Bild der aufsteigenden Treppenlinie geweckt. Daraus sind die «Cantos» entstanden, ein Motiv, das den Künstler immer wieder beschäftigt. Nach Ausführungen in Holz, Kupfer und Messing verwendet René Küng in einer neuen Version erstmals Aluminium. Das leichte Metall ermöglicht einen flacheren Winkel der ausgreifenden Linien bei längeren Elementen. Die Musik ist eine der wesentlichen Inspirationsquellen des Künstlers. Überall spürt er Klänge und Schwingungen und führt sie in Formen über.
Viele von René Küngs erkannten Formen sind Symbole. Die Ziege, die Heuschrecke, die Treppe, das Rad, die Spirale, die Gestirne, die Leiter, das Venusdreieck, das Tor, das Buch, die schwingenden Saite, und seit kurzem auch der Buchstabe stehen als Zeichen für komplexe gedankliche und emotionale Vorgänge.
Das «Symbolon» der Antike bedeutete «das Zusammengefügte», in der praktischen Anwendung «Erkennungszeichen». Ein Bote gab sich mit dem Bruchstück eines Hühnerknochens, der haargenau in sein Gegenstück passte, als vertrauenswürdig zu erkennen. Das Zeichen hat sich seither verselbständigt, es setzt die Fähigkeit voraus, es in seiner Bedeutung zu identifizieren.
Zeichen, Symbole sprechen eine universale Sprache. Ein Steinrad steht für sämtliche denkbaren möglichen Räder und deren Bewegung. Ein Venusdreieck gilt für jede je gelebte Frau.
René Küngs Symbole lassen viel Raum für Interpretationen.
Die Spirale, in unzähligen Phänomenen der Natur angelegt, vom winzigsten Schneckenhaus bis zum kosmischen Spiralnebel, ist als eines der ältesten Symbole der Menschheit überhaupt für René Küng von besonderer Bedeutung. Mit der Spirale und ihren vielfältigen Darstellungen glaubt der Künstler zu den Urgründen seiner inneren Existenz vorgedrungen zu sein. Die Spirale erscheint in seinem Werk als wuchtige, tonnenschwere Eisenplastik oder leicht und federnd als Endpunkt von aufschwingenden Metallsaiten, vor ferne an die Violinschnecke erinnernd. Immer verweist die Spirale nach innen auf einen letzten Endpunkt und nach aussen auf eine denkbare Unendlichkeit.
Was in René Küngs Formensprache kaum vorkommt, ist die menschliche Figur. Sie liegt ihm nach eigener Aussage weniger. Er braucht sie auch nicht, seine Werke kreisen immer um Grundfragen menschlicher Existenz.
René Küngs Motive verändern sich, sie entwickeln sich weiter. Die Leiter, im Boden verankert und in den Himmel steigend, existiert in verschiedensten Materialien und Ausdrucksformen. Die Leiter in ihren unterschiedlichsten Ausformungen verbindet Waagrechte und Senkrechte, steht als Zeichen für den Menschen, eingespannt in irdische Schwerkraft und geistiges Streben.
In jüngeren Arbeiten wird sie buchstäblich zur «Bockleiter», sie legt sich auf zeichenhafte Elemente reduzierte Attribute wie Hörner, Bocksfüsse, Bart und Geschlechtsmerkmale zu und entfernt sich damit von ihrer ursprünglichen Bedeutung, ohne ihre Erkennbarkeit als Leiter aufzugeben. Die «Bockleiter» verwandelt sich weiter, wird zum Pan mit seiner Schalmei und gesellt sich zur Nymphe. Pan und Nymphe, beide sind ambivalente Gestalten. Pan, der harmlose Kobold, kann mit seinem plötzlichen Auftreten panischen Schrecken verbreiten. Die Nymphe schwebt federleicht über dem Wasser, doch ertrinkt, wer sich von ihr verführen lässt. Auch sie eine Leiter, doch mit wehendem Haar zur mythologischen Figur erhoben. Ein Wunschprojekt des Künstlers wäre es, einen Ort zu finden, wo Pan im Schilf seine Melodie blasen und Nymphe auf dem Wasser dazu tanzen könnte. Solche Vorstellungen verleiten dazu, René Küngs Werke einfach als verspielte, ausserordentlich schöne Gebilde zu betrachten. Es fehlte dann aber der entscheidende Vorgang des Erkennens.
Was soll ein Rad aus Stein, das nicht fährt? Was eine Leiter, die niemand besteigen kann? Wozu ein Tor in der Landschaft, durch das auch nicht das dünnste Kamel schreiten könnte? Wofür ein Fenster aus Stein, wenn kein Haus da ist? Wie kann eine Harfe aus Stein, durch die höchstens der Wind bläst, gespielt werden? Als Betrachter erkennen wir Küngs Skulpturen und Plastiken als Gegenstände unseres Alltags, die dort einen bestimmten Zweck zu erfüllen haben. Der Künstler enthebt sie ihrer Zweckmässigkeit, belässt ihnen aber ihre Erkennbarkeit. Erkennbar sind die Dinge an ihrer gemeinsamen inneren Idee. Das Tor führt den Blick in die Tiefe, das Auge erkennt die dritte Dimension, den Raum dahinter. Wie jeder Bildhauer denkt und sieht René Küng eminent räumlich. Seine Werke lehren räumliche Wahrnehmung. Jeder Durchblick lässt einen anderen Standort erspähen.
Indem er den Gegenständen eine andere Materialität verleiht, wirft er Fragen auf wie: Was macht eine Leiter zur Leiter? Was ist das «radhafte» am Rad? Ist es die Form oder die Funktion? Die uralte Frage nach Wahrnehmung der Wirklichkeit wird neu gestellt.
Sobald die erkennbaren Dinge zweckfrei werden, lassen sie sich mit anderen Bedeutungen aufladen. Die Freiheit vom Zweck ermöglicht die Freiheit zum Spiel. Spielerisch erst ist Kunst wirklich bei sich, ist befreites Erkennen gegeben.
Gerade, weil der Künstler bekannte Gegenstände schafft, dies aber in Materialien, die ihre Zweckgebundenheit verunmöglichen, richtet er unsere Aufmerksamkeit auf die Materialität seiner Werke. Sehen wir Steine am Wegrand, so schenken wir ihnen kaum Beachtung. Sind die Steine aber zu einer Ziege aufgebaut, erkennen wir ihre Schönheit als Steine. Zugleich nehmen wir die Ziege als interessante Form wahr. Liegt ein krummer Ast im Wald am Boden, ist er einer von vielen. Wird er unter den Händen von René Küng zur Mondsichel, so bewundern wir seine Beschaffenheit als Stück Holz. Das Holzstück, mit wenigen Eingriffen zur Landschaft umgestaltet, lässt die wirkliche Gegend anders sehen und schärft den Blick für die Struktur des Holzes. Rostige Eisenplatten in der griechischen Landschaft können ein Ärgernis sein; wenn der Künstler ihnen Ziegenköpfe aufsetzt, scheint Arkadien auf.
Mit dem Respekt des traditionellen Handwerkers behandelt René Küng seine Werkstücke. Er beugt sich den Gesetzen seiner Materialien. Holz und Stein lassen sich nur entlang ihrer inneren Beschaffenheiten bearbeiten, sonst halten die Skulpturen nicht. Der Künstler vergewaltigt nicht die Natur zu Kunst, sondern holt Formen aus der Natur oder fügt künstlerische Eingriffe der Natur bei. Nicht als angepasste Ergänzung, sondern – um es mit Paul Klee zu sagen – «gleichnishaft». Kunst und Natur sind zwei Gegenpole, in spannungsvoller Beziehung sich gegenseitig spiegelnd. René Küngs Plastiken befinden sich immer in intensivem Dialog mit ihrer Umgebung. Können seine grossen Arbeiten ihre Wirkung nur in der Natur oder im urbanen Umfeld voll entfalten, so kann er sich die neusten «Cantos» aus dem kühlen, matt glänzenden Aluminium durchaus auch in einem Innenraum eines Neubaus vorstellen.
René Küngs Arbeiten werden zuweilen als «poetisch» bezeichnet. Er gilt als der «Poet» in der Schweizerischen Kunstszene. Er selbst relativiert dieses Etikett und sieht sich allenfalls als «nonverbalen Poeten». Wenn Poesie denn in ihrem ursprünglichen Wortsinn als «Machen» oder «Verfertigen» oder im übertragenen Sinn als «Dichten» und «Ver-Dichten» verstanden wird, trifft der Begriff den Kern der Sache. Wenn die zu Symbolen verdichteten Formen, Gedanken und Empfindungen im Zwiegespräch mit den Werken erkannt werden, so geschieht das Beste, was Kunst zu leisten vermag: Aus erkennen wird Erkenntnis. Das Lied erwacht, die Welt hebt an zu singen.

Katharina Nyffenegger

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